Mit seinen unzähligen Kanälen, Altarmen und Schwemmwiesen zählt das Untere Odertal zu den wildesten Flusslandschaften im Westen Polens. Ab dem 11. November 2025, dem Nationalfeiertag Polens, soll das Gebiet den offiziellen Titel eines Nationalparks tragen. Einen entsprechenden Beschluss hat der Sejm, das polnische Parlament, kürzlich gefasst. Der „Park Narodowy Doliny Dolnej Odry“ wäre der 24. Nationalpark im Nachbarland. Er bildet mit dem bereits 1995 gegründeten Nationalpark Unteres Odertal auf deutscher Seite eine gemeinsame, auch touristisch attraktive Naturlandschaft.
Mit der Westverschiebung Polens wurde das Untere Odertal zur Grenzregion. Die einstige Kulturlandschaft verwilderte mit der Zeit und entwickelte sich zu einem wahren Vogelparadies. Heute werden dort mehr als 230 Vogelarten gezählt, darunter Silberreiher, Eisvogel, Trauerseeschwalbe oder Schwarzkopfmöwe. Im Frühjahr und Herbst machen dort regelmäßig viele Tausend Kraniche und Wildgänse Station auf ihren Flügen zwischen Winter- und Sommerquartier. Auch Wolf und Elch haben sich in den vergangenen Jahren dort öfter gezeigt.
Auf der westlichen Seite des Untern Odertals sind bereits seit 1995 große Teile der Flussauenlandschaft als Nationalpark geschützt. Auf polnischer Seite besteht seit Anfang der 1990er Jahre der Landschaftsschutzpark Unteres Odertal. Private Naturschutzvereine in Polen setzten sich schon seit längerer Zeit dafür ein, dass das Gebiet auch den Status eines Nationalparks erhält. Ende 2023 hatten die drei Anliegergemeinden Widuchowa (Fiddichow), Kołbaskowo (Kolbitzow) und Gryfino (Greifenhagen) ihre Zustimmung dafür signalisiert.
Erst kürzlich hat das polnische Parlament mehrheitlich für die Ausweisung der Landschaft als 24. polnischer Nationalpark gestimmt. Der Beschluss muss nun noch in der zweiten Parlamentskammer bestätigt werden. Nach einer aktuellen Umfrage unterstützten landesweit 70 Prozent der Befragten die Einrichtung des Nationalparks, in der davon betroffenen Woiwodschaft Westpommern sind es sogar mehr als 80 Prozent. Sie erhoffen sich davon auch wirtschaftliche Vorteile für die Region und eine Steigerung der touristischen Attraktivität.
Das neue Schutzgebiet umfasst knapp 4.000 Hektar zwischen der Westoder und der Regalica (Ostoder). Der neue Nationalpark ist damit einer der kleinsten im Nachbarland Polen. Er zieht sich über eine Länge von rund 30 Kilometern vom kleinen Ort Widuchowa im Süden bis ins Stadtgebiet von Szczecin (Stettin) hinein. Die Nationalparkverwaltung soll am 1. Januar 2026 ihre Arbeit aufnehmen. Sie wird ihren Sitz in Gryfino haben. Dort sowie an zwei weiteren Standorten sollen Bildungszentren für Besucher jeden Alters entstehen.
Im 19. und 20. Jahrhundert war das wilde Odertal durch Flussbegradigung und den Bau der Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße besser schiffbar gemacht worden. Zwischen den beiden Hauptströmen entstand zwischen 1906 und 1932 ein Poldersystem mit zahlreichen Entwässerungskanälen und Wehren. Zusammen mit den Altarmen der Oder beträgt die Gesamtlänge der Gewässer mehr als 200 Kilometer. Die Planung für den neuen Nationalpark sieht vor, verlandete Kanäle zwischen den beiden Hauptströmen der Oder abschnittsweise auszubaggern, sodass typische Wasserlebensräume stabilisiert werden und Besucher die Auenlandschaft auch künftig weiter erleben können.
Touristisch bietet die Region bereits heute viele Möglichkeiten, die künftig in das Nutzungskonzept des Nationalparks einbezogen werden sollen. So ist das Untere Odertal ein beliebtes Ziel für Vogelliebhaber. Sowohl Stand- als auch Zugvögel lassen sich von verschiedenen Aussichtspunkten oder vom Wasser aus gut beobachten, ohne sie dabei zu stören. So bietet die Plattform in Widuchowa einen guten Landschaftsüberblick. Weitere Aussichtstürme sollen der Einrichtung des Nationalparks entstehen.
Am besten erlebt man die Flusslandschaft mit einem Boot. Einige Unternehmen in der Region bieten geführte Kajaktouren durch die zahlreichen Kanäle, wie etwa den Żeglica-Kanal mit dem malerischen Kwiatowy-Kanal. Dort ist das Wasser so klar, dass es tiefe Einblicke in die Unterwasserwelt bietet. Zudem gibt es einige private Kajakverleihe. Startpunkte liegen etwa in Siadło Dolne (Niederzahden), Gryfino oder Szczecin. Bei einer Kanutour können Aktivtouristen auch die Überbleibsel der fast 130 hydrotechnischen Bauwerke erleben, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Flussregulierung errichtet wurden. Angeln und Berufsfischerei bleiben auf ausgewiesenen Flächen auch künftig möglich.
Die Übernachtungsmöglichkeiten in der Region sind vielfältig. So finden Reisende in Szczecin auch Hotels der Luxusklasse. In Gryfino gibt es neben Mittelklasse-Hotels Pensionen und wie in Widuchowa auch Ferienwohnungen von Privatanbietern. Szczecin, Gryfino und Widuchowa sind ab Berlin als Umsteigeverbindung mit dem Regionalverkehr zu erreichen. Gryfino ist auch eine Station auf der neuen polnischen Radroute Blue Velo, die entlang der Oder und des Stettiner Haffs bis zur Ostsee führt.